Das Geheimnis ist gelöst
Autor: Harald Schneider
»Elvis? Na klar, der ist ja verschwunden«, sagte Sandra und war sichtlich erleichtert. »Wahrscheinlich ist er Frau Coleman entwischt und dann unserer Fährte gefolgt.«
Sandra schaute sich um. »Ja und, wo ist denn unser Liebling überhaupt?«
»Er ist noch in der Hütte«, erklärte Marc. »Ich war eben bei ihm. Die Polizisten baten mich, ihn drinnen zu lassen, damit sie in Ruhe draußen die Spuren sichern können. Freddie ist übrigens auch drin.«
»Du willst bestimmt wissen, wie es weiterging, oder?«, fragte Kerstin ihre Freundin. »Als Bill die Tür öffnete, kam Elvis regelrecht in die Hütte geflogen. Sofort verbiss er sich in die Wade von Bills Kumpan. Der schrie auf und ließ sich auf den Boden fallen. Freddie hat sich sofort auf ihn gestürzt und mit den Decken aus dem Nebenraum eingewickelt und gefesselt. Bill rannte nach der Schrecksekunde nach draußen und wollte mit seiner Harley fliehen. Die sprang natürlich nicht an und vor lauter Fluchen bemerkte er die Polizisten erst, als sie unmittelbar vor ihm standen. Er hatte nicht die geringste Chance, zu entkommen.«
Die wilden Vier gingen den Gartenweg in Richtung Haus. Die Tür stand offen. Auf der Eckbank saß Freddie Coleman und streichelte liebevoll den Dalmatiner. Als er Sandra sah, wirkte er erleichtert. »Gott sei Dank geht es dir gut. Ich weiß nicht, was mit meinem Bruder ist. Ich kann mich nur tausendmal für sein schäbiges Verhalten entschuldigen. Aber immerhin könnt ihr jetzt eine spannende Reportage für eure Schülerzeitung schreiben. Übrigens«, ergänzte er. »Ihr habt wirklich einen braven vierbeinigen Freund. Normalerweise kann ich nicht so viel mit Hunden anfangen, bei Elvis ist das aber anders.«
»Ach, wissen Sie«, sagte Kerstin zu ihm. »Wir haben ein bisschen geschwindelt. Wir schreiben gar nicht für eine Schülerzeitung.«
Sie klärte ihn über ihr wahres Anliegen auf. Coleman war erstaunt, als er von den Abenteuern der wilden Vier hörte. »Dann könnt ihr mir bestimmt erklären, was mein Bruder mit diesen komischen Zahlen wollte?«
Sandra schüttelte den Kopf. »Das wissen wir auch noch nicht. Aber ich denke, in ein paar Tagen wird dieses Geheimnis gelöst sein.«
Die Jugendlichen hatten noch eine Weile Gelegenheit, der Arbeit der Polizisten zuzuschauen. Schließlich wurde auch das Motorrad abtransportiert und sie mussten die Hütte verlassen, da diese versiegelt wurde.
»Soll ich euch heimfahren?«, bot ihnen Kommissar Greulich an.
Marc winkte ab. »Vielen Dank, Herr Kommissar, aber wir haben unsere Räder dabei. Außerdem glaube ich, dass uns ein bisschen frische Luft gut tun wird. Wir versprechen Ihnen, dass wir uns auf dem Heimweg in keinen weiteren Kriminalfall einmischen werden.«
»Wenigstens heute nicht«, ergänzte Kevin frech.
Der Kommissar lächelte. »Okay, dann fahrt mal los. Nicht, dass eure Eltern zu lange auf euch warten müssen.«
Nachdem sie sich vom Kommissar verabschiedet hatten, radelten die wilden Vier müde nach Hause. Elvis rannte schwanzwedelnd nebenher.
»Mein Guter!«, sagte Marc. »Ohne dich wären wir diesmal nicht so einfach davongekommen. Zuhause bekommst du eine fette Belohnung!«
»Wuff!«
Zwei Tage später wurden die wilden Vier von Kommissar Greulich zur Abschlussbesprechung ins Präsidium eingeladen.
›Dalmatiner sind sehr erwünscht‹, stand als Zusatz auf der schriftlichen Einladungskarte.
»Wisst ihr noch, wie wir das letzte Mal im Präsidium waren und dieser Protzig beim Kommissar war? So einen unsympathischen Kerl habe ich noch nie zuvor gesehen«, sagte Kevin.
»Na ja, der wird heute wohl nicht da sein«, entgegnete seine Schwester, während sie die Stufen des Polizeipräsidiums erklommen. »Es könnte allerdings sein, dass Freddie kommt.«
Nachdem sie das bekannte »Herrrrein« vernommen hatten, öffneten sie die Bürotür. Dort saßen Jutta Marsanek und ihr Verlobter Sven. Verwundert schauten sich die wilden Vier an. Elvis lief gleich zu Sven und ließ sich ausgiebig kraulen.
»Na, da staunt ihr, was?«, begrüßte sie Jutta. »Mit uns habt ihr bestimmt nicht gerechnet.«
Die wilden Vier begrüßten die beiden erfreut. Sofort wurden in ihnen die Erinnerungen an das kürzlich erlebte gefährliche Abenteuer von der Schatzsuche im Rathauskeller wach.
»Was macht ihr hier?«, fragte Sandra »Habt ihr etwas mit dem Papageienfall zu tun?«
»Nein, nein«, wehrte Sven ab. »Wir hatten nur noch ein paar offene Punkte mit Herrn Greulich zu besprechen. Dabei haben wir von eurem neuesten Fall mit den Papageien erfahren. Ihr lauft ja wirklich von einem Abenteuer ins nächste.«
Jutta sprach weiter. »Als wir erfuhren, dass ihr heute Mittag vorbeikommt, haben wir gewartet. Es gibt nämlich eine Überraschung für euch.«
»Eine Überraschung?«, riefen die vier Jugendlichen im Chor. »Was für eine Überraschung?«
»Erstens wollen wir euch zu unserer Hochzeit einladen. Der Termin steht inzwischen fest. Zweitens haben wir etwas für eure Herbstferien. Meine Eltern haben ja, wie ihr wisst, ein paar große Grundstücke im Allgäu geerbt. Die wollen wir uns anschauen. Wenn ihr wollt und es eure Eltern erlauben, fahren wir während der Ferienzeit gemeinsam dort hin. Wir würden euch gerne dazu einladen. Natürlich könnt ihr dann ganz alleine in einer Ferienwohnung logieren. Die würden wir für euch buchen, sie befindet sich in der Nähe von Rettenberg in einer ehemaligen Mühle, mitten im Zentrum des Allgäus. Sven und ich übernachten währenddessen bei Freunden im Dorf.«
Die wilden Vier jubelten lauthals, Elvis bellte, bis ein Beamter aus einem Nachbarbüro herüberkam.
Nachdem sich alle wieder beruhigt hatten, übernahm der Kommissar das Wort: »So, jetzt kommen wir zum aktuellen Fall. Ich kann wie immer wieder nur das gleiche sagen. Es war sehr gefährlich, auf was ihr euch da eingelassen habt. Ihr wisst, das hätte auch böse ausgehen können. Aber genauso gut könnte ich wahrscheinlich gegen eine Wand reden. Also lassen wir das.«
In diesem Moment klopfte es an der Tür. Herein kam Freddie Coleman mit seiner Mutter.
»Gut, dass Sie es einrichten konnten, heute vorbeizukommen«, begrüßte Greulich die beiden. »Ich wollte gerade mit einem Überblick des Falls beginnen.«
»Darauf sind wir sehr gespannt, Herr Kommissar«, sagte Freddie und setzte sich mit seiner Mutter neben Sven und Jutta.
»Angefangen hat es damit, dass auf dem Frankfurter Flughafen drei Papageien mit postlagernder Adresse aus Brasilien ankamen«, begann Greulich. »Nachdem sich herausstellte, dass die Papiere gefälscht waren, wurden die Vögel verschiedenen Tierparks angeboten. Da sie zu diesem Zeitpunkt niemand wollte, wurden sie Ihnen, Herr Coleman, geschenkt. Zwei der Tiere stifteten Sie dem Ebert-Park, da dort zufällig eine Voliere leer stand. Der zuständige Parkleiter, Herr Protzig, der mir am Anfang sehr verdächtig vorkam, hat aber, wie sich herausstellte, mit diesem Fall absolut nichts zu tun.«
Greulich trank einen Schluck Wasser, ehe er fortfuhr: »Kurz darauf versuchten zwei Männer, die Ringe der Papageien in der Voliere zu fotografieren. Als das misslang, haben sie die Tiere gestohlen. Anhand des von euch gesicherten Fußabdruckes konnte Bill als einer der Täter identifiziert werden. Einem seiner beiden Kumpane wurde der verlorene Ehering zum Verhängnis, den ihr im Käfig gefunden habt. Zu dem Zeitpunkt wussten wir allerdings noch nicht, dass die Lieferung der Papageien von Ihrem Bruder Bill veranlasst wurde. Als er sie am Postamt abholen wollte, erfuhr er, dass sie beschlagnahmt worden waren. Nur mit Mühe konnte er entkommen, da der Postbeamte sofort die Polizei informierte. Als er dann erfuhr, dass ausgerechnet sein Bruder die Papageien erhalten hatte, dachte er an einen außerordentlichen Glücksfall, etwa wie bei einem Sechser im Lotto.«
»Aus dem Lottogewinn wurde aber nichts, als ich ihm berichtete, dass ich die Vögel bereits weitergegeben hatte«, wandte Freddie ein. »Deshalb wurde er wütend, als er erfuhr, dass ich den dritten Vogel noch besaß. ›Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?‹, schrie er mich an. Kurz darauf kamen dann seine Gaunerkollegen und haben mich entführt. Den Ring und die Registrierungspapiere habe ich eigentlich nur versteckt, um meinem Bruder, der mich so angeschrien hatte, eins auszuwischen.«
»Und dabei hatten wir Sie die ganze Zeit in Verdacht, hinter dem Diebstahl zu stecken«, sagte Kerstin zu Freddie.
»Mich in Verdacht? Wie kommt ihr darauf?«, war Freddie überrascht.
»Als Sie uns von den verschiedenen Papageien erzählten, haben sie ein paar Dinge kräftig durcheinandergebracht und einige Fehler gemacht.«
»Ach, du meinst die Sache mit den Kakadus?«, atmete Freddie auf. »Du, ich war an dem Tag so aufgeregt und habe nur einen Moment nicht aufgepasst und das verwechselt. Ein paar Sekunden später ist es mir selbst aufgefallen, was für einen Stuss ich erzählt hatte. Ich habe mir gedacht, das merkt ihr bestimmt nicht.«
»Damit wäre dieses Missverständnis ebenfalls aufgeklärt«, fiel Kommissar Greulich ins Gespräch ein. »Jedenfalls haben die beiden Gehilfen Ihres Bruders nach dem Ring gesucht und Sie entführt. Sie, Frau Coleman, so spekulierten die Gauner, sollten dann den Ring suchen, sobald Freddie das Versteck verraten hatte und die Zahl telefonisch durchgeben. Doch dann kamen plötzlich Elvis und unsere vier Freunde ins Spiel. Sie wurden Zeuge der Entführung.«
Jetzt mischte sich Frau Coleman ein: »Ich war wie betäubt. Erst verstand ich gar nicht, was es mit den jungen Leuten auf sich hatte. Auf einmal waren alle wieder weg und ich war mit diesem Hund alleine. Es kam mir alles wie ein Traum vor. Schließlich war ich mir nicht mal sicher, ob die Entführung tatsächlich stattgefunden hatte. Ich wollte in meine Wohnung zurück. Sobald ich die Bürotür aufgemacht hatte, schlüpfte der Dalmatiner hindurch und verschwand. Schließlich habe ich die Polizei gerufen, die dann sofort kam.«
Kerstin nickte. »Ja, unser Elvis hat sich aus dem Staub gemacht und ist unserer Fährte durch den Maudacher Bruch gefolgt. Das ist schon eine Wahnsinnsleistung. Den Rest kennen wir ja. Einen der Gauner hat er gebissen, der andere konnte sein Motorrad nicht starten.«
»So in etwa hat es sich abgespielt«, bestätigte Herr Greulich. »Jetzt bleibt eigentlich nur noch die Frage, nach dem Warum.«
Mucksmäuschenstill saßen alle auf ihren Stühlen und lauschten den Ausführungen des Kommissars.
»Es war für die Polizei nicht leicht, hinter das Geheimnis zu kommen. Recht schnell haben wir festgestellt, dass Bill schon jahrelang in illegale Geschäfte verwickelt war. Zur Abwicklung seiner krummen Dinger nutzte er die Papageienzuchtstation. Dort hat er seinen Bruder als Geschäftsführer eingesetzt, damit sein Name nirgendwo in Erscheinung tritt. Sie, Freddie, ahnten bisher nichts von den dunklen Geschäften Ihres Bruders.«
»Mir ist nie etwas aufgefallen«, fiel ihm Freddie ins Wort. »Klar, wir hatten immer viel Geld. Bill hatte die Buchhaltung an ein Steuerbüro vergeben, so hatte ich nie einen richtigen Überblick über die Finanzen. Ich habe mich mehr um die Vögel gekümmert.«
Herr Greulich erklärte: »Das wird noch ein Stück Arbeit sein, die Geschäfte ihres Bruders aufzudecken. Aber ich bin überzeugt, dass uns das gelingen wird.«
Greulich nahm erneut einen Schluck Wasser. »Sein letztes Ganovenstück wurde ihm zum Verhängnis. Seit gestern wissen wir über die Gaunerei Bescheid. Bill hatte gute Kontakte zu einem Drogenhändler in Brasilien. Dieser Händler, der zur Tarnung ebenfalls eine Papageienzucht betreibt, wird in Brasilien rund um die Uhr kontrolliert und abgehört. Das bedeutet, dass sein Telefon, seine Briefe, seine E-Mails überwacht werden. So sollte es ihm unmöglich gemacht werden, Informationen weiterzugeben. Doch dieser Drogenbaron hat in der Schweiz riesige Summen Geld deponiert. Und da musste er dringend drankommen. Hierzu benötigte er einen Helfer. Und dieser Helfer ist kein anderer als unser Bill Coleman.«
»Wie soll das funktionieren?«, unterbrach ihn Marc.
»Ganz einfach, mein Junge. Er verschickte die Papageien. Ganz öffentlich. Für seine Bewacher war das ein normaler Vorgang. Sie haben die Vögel zwar geröntgt, aber auf die Registrierungen wurde nicht geachtet. Die Nummern auf den Registrierungsringen ergeben aneinandergereiht ein Schweizer Nummernkonto inklusive Geheimzahl. Deswegen war es für Bill so wichtig, an die Codes aller drei Papageien zu gelangen.«
Erstaunt sahen sich die wilden Vier an. Auch die anwesenden Erwachsenen waren von der Lösung des Geheimnisses überrascht.
»Das heißt, dass wir Bill und dem Drogenbaron in Südamerika ein gutes Geschäft vermasselt haben«, folgerte Kevin.
»Nicht nur das«, ergänzte der Kommissar. »Die Polizei in der Schweiz hat das immense Vermögen sicherstellen können. Der brasilianische Drogenhändler wurde inzwischen ebenfalls festgenommen.«
»Da hat es sich also gelohnt, dass wir uns entführen ließen«, frotzelte Kevin.
»Gelohnt?«, wiederholte Greulich entsetzt. »Ihr spinnt wohl. Das war bisher eindeutig euer gefährlichstes Abenteuer. Hier ging es um viel Geld, unvorstellbar viel Geld. Ich glaube nicht, dass Bill und seine Kumpane zimperlich gewesen wären, wenn ihr ihnen weiterhin einen Strich durch die Rechnung gemacht hättet.«
Jutta versuchte die Wogen zu glätten. »Aber Herr Greulich. Zum Glück ist es letztendlich gut ausgegangen. Jetzt lassen Sie uns mit den wilden Vier erst mal in den Herbstferien ins Allgäu fahren, um zu entspannen. Wir versprechen Ihnen fest, dass wir gut aufpassen werden, damit wir dort garantiert keine gefährlichen Eskapaden erleben werden.«
Ob Jutta ihr Versprechen halten kann, das wird sich noch zeigen. Die wilden Vier freuen sich jedenfalls auf ihre Ferien im Allgäu.
Ach so, da wird noch einer mit von der Partie sein.
»Wuff!«