Martin-Luther-Straße

Martin Luthers 95 Thesen

Autor: Harald Schneider

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Mein jüngerer Bruder Paul hat’s gut. Der hat nur vernünftige Lehrer, die man ärgern kann. Bei mir an der Schule gibt’s fast nur komische und strenge Lehrer. Zum Beispiel Herr Niklaus. Der ist schon uralt und unterrichtet Religion. Wir vermuten, dass er mindestens 500 Jahre alt ist und sich weigert, in Pension zu gehen. Und dann ist er auch noch streng wie die Hölle. Sobald er jemanden beim Quasseln erwischt, hagelt es von Strafarbeiten. Das ist aber nicht mal das Schlimmste. Er nuschelt immer so fürchterlich und verschluckt ganz oft die Endungen von Wörtern. Manchmal muss man echt raten, was er überhaupt gesagt hat.

Aber einmal haben wir ihn drangekriegt. Mit seinen eigenen Waffen haben wir ihn geschlagen.

Doch zuerst mal von vorn: Vor einem Monat haben wir die 95 Thesen durchgenommen, die Martin Luther 1517 einer Legende zufolge an eine Kirchentür in Wittenberg anbringen ließ. In der Pause nach der Unterrichtsstunde fragte uns Kevin, was Luther mit seinem Anschlag eigentlich bezweckte. Als er uns das sagte, lachten wir uns die halbe Pause lang schlapp. Kevin hatte aufgrund eines Missverständnisses nämlich etwas anderes verstanden.

Bei der verlachten Pause wäre es geblieben, wenn wir nicht drei Wochen später unser Schulfest gehabt hätten.

Jede Klasse, oder zumindest ein Teil davon, sollte beim Tag der offenen Tür den anwesenden Eltern ein bestimmtes Thema aus dem Unterricht präsentieren. Und dazu fiel uns das Missverständnis von Kevin ein. Wir meldeten uns bei Herrn Niklaus und sagten ihm, dass wir gern die 95 Thesen von Martin Luther präsentieren möchten. Unser Lehrer war ganz von den Socken und freute sich, dass wir uns dem religiösen Thema annähmen. Er gab uns die Erlaubnis und wir kicherten wie blöd. Wenn das mal kein Fehler unseres Lehrers war.

Endlich war es soweit. Am vergangenen Samstag war in unserer Schule der Tag der offenen Tür, den wir mit einem Schulfest feierten. Zuerst gab es langweilige Ansprachen unseres Rektors und von diversen Lehrern. Niemand hörte so richtig zu, wir Schüler schon gar nicht. Und die Eltern warteten nur auf die Auftritte ihrer Kinder.

Zuerst gab es ein paar harmlose Aufführungen, doch dann kamen wir an die Reihe. Herr Niklaus betrat die Bühne und stellte das Projekt vor. Den Zuhörern sollten die 95 Thesen von Martin Luther präsentiert werden. Auch bei dieser Vorstellung verschluckte er ein paar Silben, was sicherlich dem einen oder anderen auffiel.

Wir bauten auf der Bühne ein Flipchart auf, das mit einer Decke verhüllt war. Das haben wir uns wegen des Überraschungseffektes ausgedacht. Herr Niklaus hatte unser Projekt schließlich auch noch nicht gesehen. Wir stellten uns daneben und lüfteten unsere Arbeit.

Ein Raunen ging durch den Zuschauerraum. Einige, die sofort verstanden, lachten lauthals heraus. Ein paar Lehrer drehten sich mit rotem Kopf zur Seite. Andere, die nichts verstanden hatten, wurden von den Nachbarn aufgeklärt. Schließlich brüllte der ganze Saal vor Lachen.

Nur Herr Niklaus, der noch hinter dem Flipchart stand, verstand die Aufregung nicht. Langsam trat er vor die Tafel und bekam den Schock seines Lebens.

Auf dem Plakat waren exakt 95-mal der Buchstabe „T“ abgebildet. Große Ts, kleine Ts, bunte Ts, verschnörkelte Ts und karierte Ts.

Im gleichen Moment trat Kevin an den Bühnenrand und rief ins Publikum: „Meine sehr geehrten Damen und Herren: Wie Herr Niklaus gesagt hat, hier sind die 95 Ts von Martin Luther.“

Klar, wir waren die Helden des Tages. Sogar unser Rektor gratulierte uns zu dem gelungenen Streich. Nur Herr Nicklaus war zunächst etwas sauer. Doch auch er kam darüber hinweg.