Zuggleise

Wie man zu einem Genie wird

Autor: Harald Schneider

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Frau Meiers Geschichtsunterricht war meist ziem­lich öde. Wahrscheinlich konn­te die gute Frau gar nichts dafür. Seit Jahrhunderten erzähl­te sie ver­mut­lich jedes Jahr einer ande­ren Klasse das glei­che his­to­ri­sche Wissen.

Sie ging stets streng nach Schulbuch vor. Abweichungen kamen nie vor, eben­so wenig beson­de­re Vertiefungen an inter­es­san­ten Stellen. Wir ver­mu­te­ten, dass Frau Meier zwar das Schulbuch in- und aus­wen­dig kann­te, ihr geschicht­li­ches Wissen damit aber auch schon kom­plett abge­deckt war.

Dies muss­te natür­lich mit einem beson­de­ren Streich bedacht werden.

Unsere Idee hat­te aller­dings einen Haken: Sie war mit viel Aufwand ver­bun­den, bes­ser gesagt mit Lernaufwand. Doch für einen gelun­ge­nen Streich muss man auch mal Opfer brin­gen können.

Aus unse­rem Geschichtsbuch wuss­ten wir, dass in ca. drei Wochen das Thema Nordamerika zwi­schen 1865 und 1929 dran­kom­men wür­de. Für die­ses Thema wür­de Frau Meier wohl höchs­tens eine Doppelstunde opfern, mehr gaben die zwei Seiten im Buch nicht her.

Zuerst began­nen wir, die bei­den Seiten über Nordamerika aus­wen­dig zu ler­nen. Wichtige Punkte wie Bevölkerungsentwicklung, Besiedlung und Gebietsvergrößerung notier­ten wir uns sepa­rat. Einen Tag spä­ter gin­gen wir zusam­men in die Bibliothek und lie­hen uns rund ein hal­bes Dutzend Bücher zu die­sem Themenblock aus.

Nun muss­ten wir inter­es­san­te und leicht ver­ständ­li­che Schwerpunkte her­aus­ar­bei­ten. Wir lern­ten Jahreszahlen aus­wen­dig und die dazu­ge­hö­ri­gen Ereignisse. Wir hör­ten uns gegen­sei­tig ab, bis wir am Ende alle regel­rech­te Nordamerikaspezialisten waren.

Die drei Wochen zusätz­li­chen Lernens waren ziem­lich müh­sam, noch nie hat­ten wir für einen Streich solch einen Aufwand betrie­ben. Doch es soll­te sich lohnen.

Frau Meier begann wie in jeder Geschichtsstunde. Sie las vor. Kaum hat­te sie erwähnt, dass die USA 1867 den Russen Alaska abge­kauft hat­ten, mel­de­te sich Marc, der ergän­zend hin­zu­füg­te, dass die USA rund 20 Jahre spä­ter auch in den Besitz der Philippinen, Guam und Puerto Rico gelangt waren.

Erstaunt schiel­te Frau Meier über den Rand ihrer Brille, nick­te Marc kurz zu, um dann ihren Text wei­ter vor­zu­le­sen. Kaum hat­te sie gesagt, dass ab 1870 das Eisenbahnnetz zügig aus­ge­baut wur­de, da fiel ihr Kerstin ins Wort:

»Ja, stel­len Sie sich vor, bis 1890 hat­te sich das Streckennetz auf 163.000 Kilometer ver­vier­facht und war damit schon län­ger als das von ganz Europa!«

Nun ließ Frau Meier sprach­los den Unterkiefer hän­gen. Da setz­te Kevin schon einen drauf: »Das scheint eine logis­ti­sche Meisterleistung gewe­sen zu sein. Frau Meier, kön­nen Sie mit uns bit­te die wich­tigs­ten Ost-West-Verbindungen durchsprechen?«

Frau Meier schluck­te und schluck­te. Sie war immer noch zu kei­ner Antwort fähig.

Kerstin set­ze nun zum Vernichtungsschlag an: »Vielleicht soll­ten wir bes­ser über die kana­di­schen Eisenbahnlinien spre­chen. Gerade für die Gründung des kana­di­schen Bundes 1867, den Kauf Rupertslands durch die Hudson’s Bay Company 1869 und den Beitritt Manitobas 1870 war die­ses Thema noch wichtiger.«

Die letz­ten Worte bekam die gute Frau Meier schon gar nicht mehr mit. Sie stürm­te, wohl nerv­lich am Ende, aus dem Klassensaal.

Wir über­leg­ten, ob wir die­ses Mal viel­leicht zu weit gegan­gen waren. Daraufhin klär­te Kerstin in der nächs­ten Pause die arme Frau Meier über unse­ren Streich auf.